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Ein langer Weg zurück ins Leben

Gerade noch deutscher Meister über 50 Kilometer und plötzlich im Koma. Nach einem schweren Unfall lernt Peter Seifert noch einmal laufen.

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© Robert Michael

Von Michaela Widder

Darf man diese Geschichte beginnen mit der Feststellung, dass Peter Seifert großes Glück gehabt hat? Er steht an der Startlinie bei frostigen Temperaturen, trägt kurze Hosen wie damals in Marburg. Dass er wieder laufen wird, glaubten die, die ihn gut kennen. Nur wann, wusste niemand. Weit hinten reiht er sich diesmal im Läuferpulk ein. Er rennt los mit der Masse, die früher sein Trikot nur von hinten sah. Nach einer Stunde, drei Minuten und 13 Sekunden ist er im Ziel. Egal, wann die Uhr nach zehn Kilometern für ihn stehen geblieben wäre: Es ist Bestzeit. In diesem Leben.

Seine Kopfverletzungen sind so schwer, dass ihn die Ärzte für einige Zeit ins künstliche Koma versetzen.
Seine Kopfverletzungen sind so schwer, dass ihn die Ärzte für einige Zeit ins künstliche Koma versetzen. © privat
Ein bisschen gemein seien die Therapeuten, wie Sven Steinke (r.), gewesen, witzelt Peter Seifert. Erst hätten sie ihn in den Rollstuhl gesetzt, und kaum konnte er damit umgehen, nahmen sie ihm den wieder weg. Dasselbe mit dem Rollator.
Ein bisschen gemein seien die Therapeuten, wie Sven Steinke (r.), gewesen, witzelt Peter Seifert. Erst hätten sie ihn in den Rollstuhl gesetzt, und kaum konnte er damit umgehen, nahmen sie ihm den wieder weg. Dasselbe mit dem Rollator. © privat

Die Frau im Auto hat einfach nicht geblinkt, sagt Peter Seifert. Bis zu jenem Moment läuft er bei Volkssportläufen fast allen davon. Der junge Mann aus Werdau ist eines dieser spät entdeckten Lauftalente. Aus Unlust einst früh aufgehört, entdeckt er die Lauferei beim Psychologiestudium in Jena wieder für sich, schreibt sich Trainingspläne und rennt ein halbes Jahr später seinen ersten Marathon in 2:42 Stunden. Eine Zeit, von der auch die schnellen Hobbyläufer meist nur träumen. Für ihn ist das 2006 erst der Anfang.

Drei Jahre später startet Peter Seifert auf Einladung beim Berlin-Marathon. Er frühstückt im Hotel mit Äthiopiens Lauflegende Haile Gebreselassie, der später auch gewinnen wird, und genießt es, in dessen Schatten zusammen mit anderen Top-Läufern ein bisschen hofiert zu werden. Einen Namen in der Laufszene macht sich Peter Seifert, der mittlerweile eine Marathon-Bestzeit von 2:23 Stunden hat, als er 2010 das erste Mal deutscher Meister über 50 Kilometer wird. Ein Jahr später wiederholt er in Marburg diesen Erfolg über die ungewöhnliche Distanz und verbessert in 2:52:26 Stunden den 17 Jahre alten deutschen Rekord um fast anderthalb Minuten.

Es ist eine Zeit, an der sich die Konkurrenten lange probieren. Bis vergangene Woche, auf den Tag genau fünf Jahre später, der Dresdner Paul Schmidt in Berlin drei Minuten schneller läuft. Den Rekord wird sich Seifert wohl nicht zurückholen.

Da war eben die Eine, die nicht geblinkt hat, sagt er wieder.

Als Peter Seifert im März 2011 in Rekordzeit gewinnt, ist er in der Form seines Lebens. Dem Ultraläufer winken sogar kleinere Sponsorenverträge und die WM über 100 Kilometer. Dafür wird er noch härter trainieren, er fliegt mit einem Lauffreund ins Trainingslager nach Lanzarote. Wie schon so oft laufen sie auch an diesem Nachmittag auf dem breiten Seitenstreifen einer großen, schnurgeraden Straße und spulen ihre Kilometer runter. Sein Kumpel hat Mühe, ihm zu folgen. Aber er bleibt dran. Vielleicht zwei Schritte trennen sie. Oder ein Meter. Oder eine halbe Sekunde. Als das Auto Seifert erfasst. An einer Gabelung will er die Straße überqueren. „Ich habe mich umgeschaut. Sie hat nicht geblinkt.“

Der Unfall jährt sich an diesem Dienstag zum fünften Mal. Fast nichts ist, wie es einmal war. Und doch ist es an der Zeit, von Glück zu sprechen. Weil er wieder rennt. Es sind viele Erinnerungen, die in diesen Tagen zusammenkommen, an den letzten großen Lauf in Marburg, an den Rekord, und nun hat er seinen deutschen Rekord verloren, auf den er ein bisschen stolz war.

Es läge nahe, in solchen Momenten die Frage zu stellen: Was wäre wenn? Doch er sagt: „Alles, was ich jetzt habe, hätte ich ohne den Unfall nicht – meine Frau, meine kleine Tochter Hannah.“ Peter Seifert hat Frieden geschlossen mit seinem Leben, das noch einmal von vorn begonnen hat. Im vergangenen Frühjahr ist er auf die Insel geflogen und an jenen Ort zurückgekehrt, den er nur von Bildern und Protokollen kennt. Es hat nichts mit ihm gemacht. Er redet über den Unfall in einem Tonfall, in dem er auch über einen kleinen Blechschaden am Auto plaudern könnte. Vier bis fünf Meter habe es ihn damals durch die Luft geschleudert, sagt er ganz ruhig. Es ist auch kein Groll zu spüren auf die spanische Autofahrerin.

Peter Seifert wird in die Uniklinik auf der Nachbarinsel Gran Canaria geflogen. Die Diagnose lautet: Schädel-Hirn-Trauma. Die Kopfverletzungen sind so schwer, dass die Ärzte ihn ins künstliche Koma versetzen. Nach zwei Wochen wird er nach Erfurt und kurze Zeit später nach Bad Tennstedt in die Rehaklinik verlegt. Die Prognose der Mediziner ist wenig hoffnungsvoll.

Wird Peter wieder zu sich kommen? Irgendwann wieder laufen können? Auf die quälenden Fragen der Mutter gibt es keine Antwort. Wenn es Hoffnung auf Besserung gibt, dann rechnet man in Jahren. Irgendwann, die Tage vergehen, gibt er selbst die ersten Antworten. Nein, reden kann er damals nicht, die Augen sind auch noch zu. Doch er strampelt sich im Krankenbett in eine bequemere Position. Ein erstes echtes Lebenszeichen. Die Ärzte bescheinigen ihrem Patienten einen unbändigen Bewegungsdrang, den sie zuvor noch nie erlebt hatten.

Der Moment, als er ganz langsam zu sich kommt, lässt sich auch heute kaum beschreiben. „Ich habe nicht realisiert, was passiert ist. Sprechen, schreiben, essen – nichts ging, gar nichts ging.“ Und dann sagt er aber: „Für mich war es okay. Es hat meinen geistigen Horizont damals überstiegen, das alles einzuordnen.“ Er hat überlebt, aber so kann doch nicht Leben aussehen. Andrea Ehms, seine Mutter, erlebt mit, wie ihr Sohn elementare Fähigkeiten ganz neu erlernt. Er ist zum zweiten Mal Kind geworden. „Klar hätte ich manchmal resignieren können“, sagt er, „aber ich habe keine Lust darauf.“ Auch sein guter Freund Alexander Fritsch meint: „Auf mich hat er zu keiner Zeit verzweifelt oder niedergeschlagen gewirkt.“ Noch als er im Bett liegt, trägt er wieder seine Pulsuhr und lässt sich schon Laufschuhe mitbringen.

Das alte Leben ist ewig weit weg. Doch Woche für Woche macht er Fortschritte, er sitzt nicht lange im Rollstuhl. Sobald das geht, quält er sich mit dem Rollator über die langen Flure. Sein Vorteil ist, so sagen es die Ärzte, dass er mit 28 noch jung ist und dazu Leistungssportler. Lernprozesse sind da leichter anzustoßen. „Meine kognitiven Fähigkeiten waren schneller wieder da als meine Motorik“, meint er. Manchmal muss er an Michael Schumacher und dessen tragischen Skiunfall denken. „Ich würde gern wissen, wie es ihm geht. Aber ich glaube, es geht ihm nicht gut.“

Als er nach neun Monaten aus der Reha entlassen wird und zurück in sein Elternhaus nach Werdau zieht, steht er wieder auf eigenen Beinen. Noch ziemlich wacklig. Er muss sich in Geduld üben. Selbst einfachste Handgriffe, über die er vorher nie nachdachte, kosten Zeit. Anziehen, E-Mails schreiben, eine riesige Portion Nudeln essen. Er kann sich noch gut erinnern, wie lange er sich abmühte, um eine Scheibe Brot abzuschneiden. „Das hat mich unglaublich viel Kraft gekostet.“

Seiferts Mutter hat sich darum gekümmert, dass er einen Platz in der Tagesklinik in Zwickau bekommt. Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie – abends ist er kaputt wie ein Arbeiter nach der Acht-Stunden-Schicht. Ein Jahr ist exakt seit dem Unfall vergangen, als er an jenem 14. März eine neue Therapeutin bekommt. Es dauert nicht lange, bis es zwischen ihm und Katja knistert. Natürlich führen sie erst das normale Therapiegespräch. Sie: „Was willst du erreichen?“ Er: „Ich will wieder laufen.“ Sie: „Das kannst du doch schon.“ Er: „Ich will laufen, nicht gehen!“ Von seinem starken Willen soll sie gleich mal wissen.

Seit Anfang 2013 wohnen sie zusammen in Bad Neustadt in Unterfranken. Dort hat sie als Physiotherapeutin einen neuen Job bekommen, dort ist dann im Sommer Hannah zur Welt gekommen, und dort haben sie sich eine kleine Dachgeschosswohnung gemütlich eingerichtet. Die Treppen, vor allem hinunter, sind für Peter Seifert noch lange eine Herausforderung und ohne Geländer ist es noch immer eine wacklige Angelegenheit. Eine Weile fährt er schon wieder Auto. Ob er das darf? „Mir wurde der Führerschein doch nie entzogen“, antwortet er kess.

Die Therapien sind zu Ende, der Kampf um Normalität geht weiter. Läuft er, sehen seine Bewegungen aus, als werden sie von einem Roboter gesteuert. Spricht er, hört es sich an, als sei er immer ein wenig heiser. „Ein bisschen nervig ist, dass man mich wegen meiner sprachmotorischen Defizite manchmal nicht ernst nimmt.“ Er habe öfter das Gefühl, unterschätzt zu werden, ja 20 IQ-Punkte abgezogen zu bekommen, wenn die Leute ihn reden hören. „Der Kluge kann sich dumm stellen, aber der Dumme nicht klug.“ Andererseits, sagt Peter Seifert, habe er auch Verständnis, sie wissen es ja nicht besser. „Jeder Mensch versucht automatisch, seinen Gegenüber einzuordnen. Eine Kassiererin hat nur eine Minute, wenn überhaupt, die ich an der Kasse bin.“ Er würde manchen auch seine Situation erklären wollen, „wenn sie den Mut aufbringen, mich damit zu konfrontieren“.

Wichtiger ist dem 33-Jährigen, anderen zu helfen, die ähnlich schwer verletzt sind. Im Sommer wird er sein Psychologie-Studium an der Uni in Würzburg abschließen. Im Moment ist er auf Jobsuche. Er würde gern mit Patienten arbeiten, die auch ein Schädel-Hirn-Trauma haben. Vielleicht sogar eine Doktorarbeit darüber schreiben. Von der EU-Rente will er jedenfalls nicht leben.

Sein Ehrgeiz ist mindestens so groß wie vor dem Unfall, deshalb akzeptiert er keinen Status quo, auch nicht, als er wieder spazieren gehen kann. Vor gut einem Jahr startet er endlich seine ersten Joggingversuche. Niemand ist an seiner Seite und sieht, wie er stolpert, hinfällt, wieder aufsteht, wieder läuft, wieder stolpert. „Es ging nicht, wie ich es wollte“, sagt er über den noch unbeherrschbaren Bewegungsablauf. Am Anfang braucht er für einen Kilometer fast neun Minuten. Er läuft weiter, manchmal, bis die Fußgelenke blutig sind. Das passiert, weil er mit der linken Ferse immer wieder den rechten Knöchel touchiert. Doch er denkt nur an das große Ziel: wieder einen Wettkampf bestreiten.

Fünf Jahre nach dem Unfall steht Peter Seifert an der Startlinie in Marburg, wo sein Rekordlauf begann. Diesmal sind es nicht 50, sondern 10 Kilometer. Bruder und Freunde begleiten ihn. Sein Laufstil wirkt etwas hölzern, doch er rennt schon die zweite Hälfte des Rennens schneller als die erste. Ein Sturz bremst ihn nur kurz aus. „Ich höre nicht auf, weiter zu kämpfen“, sagt er. „Erst an dem Tag, an dem ich das Laufen vergesse, nicht mehr darüber nachdenke. Irgendwann kommt alles zurück.“